Der niederländische Organist Sietze de Vries (geboren 1973) absolvierte seinen Bachelor-Abschluss 1994 am Musikkonservatorium in Groningen bei Wim van Beek und Jan Jongepier. Zwei Jahre später absolvierte er seinen Master-Abschluss am Königlichen Konservatorium in den Haag, wo er bei Jos van der Kooy studierte. Bei letzterem studierte er auch zeitgenössische Improvisation und Kirchenmusik. Nachdem er vierzehn Preise bei Improvisations- und Litertaurspiel-Wettbewerben gewonnen hatte, beendete Sietze de Vries seine Aktivitäten in diesem Feld mit dem Gewinn des prestigeträchtigen internationalen Improvisationswettbewerbes in Haarlem im Jahr 2002. Sietze de Vries konzertierte in ganz Europa, in Russland, den USA, Kanada und Australien. Sein musikalischer Schwerpunkt liegt im Bereich der Renaissance, der großen norddeutschen Barocktradition, Bach und der Improvisation in historischen Stilen. Er ist darüber hinaus gefragt als Lehrer insbesondere auf dem Gebiet der Improvisation. Als ein Botschafter der reichen, historischen Orgellandschaft der Provinz Groningen erreicht er viele Organisten und Musikliebhaber auf der ganzen Welt. Sietze de Vries lebt in einer ehemaligen Kirche in einem Dorf in der Nähe der Stadt Groiningen, wo er eine Sammlung von Orgeln, Cembali, Clavichorden und Harmonien aufbaut. Er ist Organist an der Chorschule in Roden, die aus einem Jungen- und Mädchenchor in der englischanglikanischen Tradition besteht. Es ist ein wichtiges Anliegen für ihn, das musikalische Talent bei Kindern zu fördern und das reiche Erbe historischer Orgel der nächsten Generation weiterzugeben.

Hast du in deiner Kindheit schon improvisiert und gab dir ein Lehrer den ersten Anstoß zur Improvisation, oder kam es aus dir selbst heraus?

So lange ich mich zurückerinnere, habe ich improvisiert. Sogar in meiner frühsten Kindheit soll ich Melodien auf jedem verfügbarem Instrument gespielt haben: auf Harmonium, Mundharmonika, Blockflöte, Trompete oder selbst auf einem Plastik Saxophon. Wir besaßen einige alte Schallplatten mit Orgelmusik und mein Vater konnte einige Akkorde auf der Orgel spielen. Die Musik und auch das Instrument selbst faszinierten mich: Über das Spielen hinaus konnte ich stundenlang dasitzen und Orgelprospekte malen oder Abbildungen von Orgeln ansehen und Orgellisten machen. Mit acht Jahren konnte ich jedes Stück von diesen alten Schallplattenaufnahmen „in meinem eigenen Stil“ nachspielen und als ich mit neun Jahren meinen ersten Orgelunterricht bekam, lernte ich das Notenlesen. Das war für mich am Anfang nicht leicht: Das ganze System Noten zu lernen war – und ist oft immer noch – so strukturbetont, unmusikalisch und langweilig, dass ich es einfach gehasst habe. Es brauchte eine Weile bis ich entdeckte, dass ich beim Notenlesen all die schöne Musik lernen konnte, die ich von Aufnahmen und im Radio kannte, und vieles mehr. Dieses war der Anfang meiner Enttäuschung über das traditionelle Konzept des Musikunterrichts. Ein Kind sollte Musik wie seine Muttersprache erlernen: Erst zuhören und Worte imitieren, dann kleine Sätze machen. Wenn man eine Sprache relativ fließend spricht, dann kann man auch lernen, sie zu lesen und zu schreiben. Es ist definitiv nicht gerade musikalisch oder klug, dem Kind zuerst methodisches Notenlesen beizubringen. Glücklicherweise hatte ich einen klugen Lehrer, der mir erlaubte zu improvisieren und er ermutigte mich auch dazu. Als ich mit 15 an das Konservatorium in Groningen ging, hatte ich das Glück, bei Jan Jongepier (1941-2011) zu studieren, einem der größten Improvisatoren, den ich je getroffen habe. Er zeigte mir, dass Improvisieren nicht einfach Fantasieren ist. Eine gute Improvisation sollte wie ein Literaturstück klingen: Stil, Form, Proportionen, Metrum: All dieses muss da sein und den Regeln entsprechen. Es ist dabei so, dass Improvisieren zur eigenen „Muttersprache“ wird, wenn man es seit der früher Kindheit macht. Deswegen kostete es mich wenig Mühe, all das in meine Improvisationen einzubauen, was ich von Kompositionen kannte. Zusammen mit den wunderschönen alten Orgeln in den Niederlanden, vor allen in Groningen, machte mich vor allem die Improvisation zu dem Musiker, der ich heute bin.

In welchen Epochen/Stilen fühlst du dich so zuhause, dass du deren Musiksprache „frei sprichst“? Und improvisierst du immer in diesen historischen Stilen, oder hast du auch Erfahrungen mit freier Improvisation und anderen Impro-Genres?

Weil ich besonders norddeutsche Orgeln mag, sind die Renaissance und der Barock meine bevorzugten stilistischen Epochen. Nicht nur der mächtige Klang der Orgeln dieser Zeit, sondern auch die strengen Formen wie Fuge, Trio, Partita und Choralfantasie inspirieren mich sehr. Aktuell aber mag ich Musik aller Epochen. Wenn ich auf einer großen romantischen Orgel spiele, versuche ich mich in der Sonatenform des 19. Jahrhunderts oder in einer Choralfantasie in der Art Max Regers. Das ist dann wie ein Geburtstagskuchen: Man isst das nicht als sein tägliches Brot, aber es schmeckt jedes Mal sehr gut. Dasselbe gilt für moderne „freie“ Improvisationen: Auf dem Wettbewerb in Haarlem liebte ich es einfach irgendetwas zu spielen, als eine zeitgenössische Improvisation gefordert wurde. Immer wieder improvisiere ich auch jetzt zusammen mit einem Kollegen auf zwei Orgeln, das ist auch sehr fruchtbringend. Ich improvisiere auch gern auf dem Klavier oder Cembalo. Und wenn ich die Zeit hätte, würde ich in einer Jazz-Band auf einem Klavier oder einer HammondOrgel improvisieren! Die größte Frage für mich ist die Kontrolle. Ich mag es nicht, wenn Musiker improvisieren, indem sie nur kreative Klänge auf der Orgel machen. Man sieht es sehr häufig: Virtuose motorische Bewegungen und schneller Klangwechsel verdecken häufig das Unvermögen, wirklich aussagefähige Musik zu machen. Man spricht dann nicht wirklich eine Sprache, sondern man gibt das nur vor. Ich bewundere eher ein Bicinium auf einer einmanualigen, mitteltönigen Orgel, als die lauten Klangfeuerwerke auf einem riesigen Instrument in einer großen Kathedrale, etwa in der Art von Pierre Cochereau. Leider denken viele Organisten, dass diese eindrucksvollen Klänge der Gipfel der Improvisationskunst seien. Auch der berühmte Improvisationswettbewerb in Haarlem ist schwer von diesem Virus angesteckt!

Hast du ein paar Grundsätze oder Leitlinien, wie du historische Improvisation selbst übst und unterrichtest?

Meine Orgelkonzerte setzen sich normalerweise aus 30-40 Minuten Literaturspiel und 20-30 Minuten Improvisation zusammen. Seitdem ich über 80 Konzerte im Jahr sowie zahlreiche Exkursionen mit Orgelvorführungen gebe, übe ich hauptsächlich durch das einfache Machen. Die Stücke, die ich aktuell übe oder anhöre, definieren den Stil der Improvisation, und natürlich der Charakter der jeweiligen Orgel. Durch meine eigene Unterrichtstätigkeit werde ich zudem sehr bereichert. Wenn ich mit den Studierenden arbeite, muss ich reflektieren, was ich beim Improvisieren selbst mache. Das bringt oft neue Ideen, abgesehen von den Ideen, die die Studierenden selbst haben. Ich habe mittlerweile bemerkt, dass es sehr wichtig ist, mit dem Improvisieren schon in jungen Jahren zu beginnen. Wenn Musik zu jemandem kommt wie die Muttersprache, dann wird man lernen, sie „fließend“ zu spielen bzw. zu improvisieren. Nicht die Zeichen auf einem Blatt Papier, sondern das innere Hören ist der wichtigste Schlüssel, um Musik zu machen. Zuerst sollte man Lieder nachspielen, sie harmonisieren, und transponieren, kleine Variationen machen und so weiter.Das ist genau der gleiche Prozess im Gehirn, wenn man Worte nachmacht, ihnen eine Bedeutung gibt, kleine Sätze formt und lernt, dieselbe Sache unterschiedlich auszudrücken. Wenn man das systematisch macht, hat man die Kontrolle darüber, was man spielt und während man in kleinen Schritten immer weiter vorangeht, wird man am Ende sogar einen komplizierten Kontrapunkt meistern. Wie beim Schach lernt man, im Voraus zu denken und alle Möglichkeiten beim Spielen zu überblicken. Die Improvisation wird auf diese Weise zu einer Art “Schnellkomposition”. Natürlich kann man eine Sprache auch im späteren Alter lernen. Obwohl sie dann nie so fließend wie eine Muttersprache wird, kann man lernen, sie sehr wortgewandt zu sprechen. Aber im Falle des Improvisierens ist das dann eine ziemliche Belastung, wenn man schon ziemlich gut spielen kann: Man weiß ja, wie es klingen könnte! Darum mögen Organisten mit großer Blattlesefähigkeit oft nicht gern improvisieren. Warum sollten sie sich all den Ärger antun und nochmal ganz von vorn beginnen? Man wird überrascht sein, dass viele gute Organisten selbst eine einfache Melodie nicht auf einer Tastatur nachspielen können! Das hat vor dem Hintergrund unseres Unterrichtssystems die Folge, dass viele Musiker ihr eigenes inneres Hören vollständig einstellen. Ihre Finger beginnen sich zu bewegen, wenn sie Noten auf einem Blatt Papier sehen, aber das Gespielte wurde dann nicht zuerst im Geiste verarbeitet. Deswegen ist es so schwer, wieder das innere Hören zurückzugewinnen. Ich benutze dazu immer Lutherische Kirchenlieder und Genfer Psalter als „Trainingshilfe“. Auf gleiche Weise hat es sicherlich auch Bach gemacht: Jedes Kind kannte das berühmte Kirchenlied „Ein feste Burg“ oder „Vater unser im Himmelreich“ auswendig. Schritt für Schritt fügt man Erschwerungen hinzu, sodass man vom akkordisch-vertikalen Denken zum liniearhorizontalen bzw. kontrapunktischen Denken gelangt. Das Ziel ist, Bachs Fußstapfen zu folgen, etwa durch Choralvorspiele wie in der Art des „Orgelbüchleins“. Wenn man einmal so etwas kann, dann sind Fuge und Passacaglia nicht mehr so weit weg. Und natürlich kann man seine eigene Sprache und seine eigenen Spezialitäten entwickeln, wenn man die Grundlagen des Harmonisierens und Improvisierens beherrscht. Das Einzige, was man nicht erlernen kann, ist die Kreativität. Man kann sein ganzes Leben damit verbringen, mit Bach als Vorbild und Inspirationsquelle die Stimmenführung und Harmonisation in seinen Improvisationen zu veredeln. Mein Lehrer pflegte zu sagen: „Du kannst das Niveau von Bach nicht erreichen, aber ich bin glücklich wenn es ein guter Krebs war“.